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Liebe Eltern – eine offene E-Mail zum Thema Handynutzung

 

Veröffentlicht am 10. November 2013 von Günter Steppich

 

 

Liebe Eltern,

anlässlich der aktuellen Bestürzung über das Thema “Sexting” (Versenden freizügiger Fotos per Handy) hat der Landeselternbeirat von Hessen eine => diesbezügliche E-Mail, die ich am 31.10.13 an den Elternbeiratsvorsitzenden meiner Schule gesendet hatte, mit der Bitte um Verteilung an alle hessischen Kreis- und Stadtelternbeiräte weitergeleitet. Dazu habe ich inzwischen positive Rückmeldungen erhalten, aber auch kritische Reaktionen zu meinen Empfehlungen zur altersgerechten Handynutzung, in denen u.a. die Befürchtung geäußert wurde, man könne damit das Vertrauensverhältnis und die Nähe zu seinem Kind verlieren.

 

 

Im Folgenden möchte ich exemplarisch meine Antwort auf solche Einwände darlegen.

 

Meine “Handystrategie”:

 

  • Grundschüler brauchen überhaupt kein Handy. Sollte es in Ausnahmefällen doch einen zwingenden Grund geben, reicht das älteste Telefon, in das Mamas und Papas Nummer eingespeichert werden und mit dem man nur telefonieren und SMS verschicken kann. Allein die Gefahr, dass ein Kind in diesem Alter auf dem Schulweg mit dem Handy beschäftigt ist und nicht auf den Verkehr achtet, halte ich für enorm! Das trifft im Übrigen noch viel mehr auf mobile Spielekonsolen zu.

  • Ab Klasse 5 kann ein Handy zur Familienorganisation hilfreich sein. Auch hier gibt es aber keinen vernünftigen Grund für ein Smartphone, aber viele dagegen (s.u.).

  • Ab Klasse 8 kann man über ein Smartphone nachdenken, dann aber nur mit einer Prepaid Card ohne Internetkontingent. Bei unter 16jährigen werden Handys und auch mobile Spielekonsolen (iPod, Nintendo, PlayStation Vita etc.) vor dem Schlafengehen bei den Eltern abgegeben und morgens wieder ausgeteilt.

  • Mit 16 Jahren sollten die meisten Jugendlichen dann alt genug sein, um mit mobilem Internet überlegt und verantwortungsbewusst umgehen zu können.

  • Die oben genannten Altersangaben sind natürlich nur Faustregeln, seien Sie sich bewusst, dass der körperliche wie geistige Entwicklungsstand bei gleichaltrigen Kindern/Jugendlichen um plusminus zwei Jahre abweichen kann. Die konkrete Entscheidung können Sie nur selbst treffen.

  • In jedem Fall sollten Sie sich unbedingt meinen “Handynutzungsvertrag für Kinder” ansehen, bevor Sie Ihrem Nachwuchs das Tor zur Erwachsenenwelt aufstoßen!

 

Mir geht es bei diesen Empfehlungen keineswegs um Verteufelung von Handys, dafür sind andere zuständig, die mit dem Schreckgespenst der “digitalen Demenz” erfolgreich hausieren gehen. Aber da mir – leider im Gegensatz zur großen Mehrheit der aktuellen Eltern  – immer schon bewusst war, dass das Internet eine komplette Abbildung der Erwachsenenwelt darstellt, mit all ihren Abartigkeiten und unangenehmen Zeitgenossen, habe ich mir immer schon sehr genau überlegt, in welchem Alter ich das meinen Kindern zutrauen und v.a. auch zumuten kann und darf.

 

Auch meine Kinder (18 und 20) haben schon lange Handys, sie hatten aber bis zum 16. Lebensjahr eine Prepaid Card, Internetzugang zuhause auf dem PC, und der Router hat den Internetzugang für die Kinder spätestens um 21 Uhr abgeschaltet. Trotzdem hat es uns niemals an Nähe gefehlt, ganz im Gegenteil: Je mehr Technologie Sie Kindern zur Verfügung stellen, desto weniger persönlichen Kontakt gibt es doch zwangsläufig mit den Eltern, insbesondere wenn die Geräte sich im Kinderzimmer befinden, weil Bildschirme zwangsläufig einen erheblichen Teil der Aufmerksamkeit beanspruchen. Stellen Sie Ihrem Kind Spielekonsole, TV, Internet-PC und ein internetfähiges Handy ins Zimmer, und sie werden es deutlich weniger sehen – Nähe stellt man so sicherlich nicht her, und die Kinder erschließen sich zudem die digitale Welt weitestgehend alleine.

 

Immer häufiger erlebe ich Situationen in denen Kinder und Jugendliche mehr mit Personen schreiben, die gar nicht anwesend sind, als mit denjenigen zu sprechen, die ihnen gegenüber sitzen – leider sind auch viele Erwachsene da ganz schlechte Vorbilder. Und ich habe zunehmend Angst vor den Legionen digitaler Ignoranten, die mir immer öfter nicht nur telefonierend, sondern Nachrichten schreibend am Steuer eines Autos begegnen, weil sie sich offensichtlich für multitaskingfähig halten und gar nicht bemerken, dass sie fahren als hätten sie zwei Promille Blutalkohol intus.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jegliche jugendgefährdende Inhalte sind im Internet unzensiert und ungefiltert abrufbar.

 

Aber zurück zum Thema: Wenn man weiß, welche Inhalte das Internet für Heranwachsende bietet – und da ist Sexting nur einer von zahllosen problematischen Bereichen – kann man Kindern unter 16 Jahren beim besten Willen nicht guten Gewissens die komplette Erwachsenenwelt rund um die Uhr verfügbar in die Hosentasche stecken, ich empfinde das sogar als grob fahrlässig. Im nicht-digitalen Teil des Lebens achten wir ja auch aus gutem Grund darauf, dass sie nicht zu früh Kontakt mit problematischen Inhalten und Umgang mit bösartigen Menschen haben – aber hier wissen die meisten von uns eben auch, wo die Risiken liegen, in Bezug auf das Internet dagegen zu über 80 % nicht, schließlich können wir diesbezüglich nicht auf Erfahrungen aus unserer eigenen Jugend zurückgreifen. Das bestätigen mir Woche für Woche die verblüfften Gesichter der Besucher meiner Elternabende.

 

Konkretes Beispiel: Bei der Recherche für eine Lehrerfortbildung habe ich kürzlich in der Google Bildersuche das Wort “enthauptet” eingegeben. Probieren Sie das bitte nicht aus, mir war danach kotzübel, trotz aktiviertem “SafeSearch”! Die kopflosen Tiere, die man da angezeigt bekommt, sind noch das geringste Problem. Harmlosere Variante: Googeln Sie “Porno kostenlos” und schalten Sie dabei die SafeSearch-Option bei Google ruhig auch einmal ab.

 

Unter www.medien-sicher.de/downloads/handbuch-jugendmedienschutz können Sie sich einen umfassenden Einblick in dieses Thema verschaffen. Ich bin mir sicher, dass Sie nach der Lektüre meine Position nachvollziehen können. Ich weiß natürlich, dass ich einen Kampf gegen Windmühlen führe, weil der großen Mehrheit der Eltern auch nicht ansatzweise bewusst ist, was “Internet” für ihre Kinder tatsächlich bedeutet und beinhaltet und weil viel zu wenig Aufklärung in diesem Bereich läuft. Also überlassen weiterhin immer mehr Eltern immer jüngeren Kindern die komplette Erwachsenenwelt und reagieren dann fassungs- und hilflos, wenn dieses Experiment (natürlich!) richtig schief geht. Am Ende jedes einzelnen Elternabends offenbart sich die digitale Hilflosigkeit in der Frage: “Können Sie bitte nochmal an die Schule kommen und das auch unseren Kindern erklären?!” Das kann ich allerdings beim Besten Willen nicht leisten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Gehirn tobt ein permanentes Tauziehen zwischen der Vernunft

auf der einen Seite sowie den Zentren für Emotionen und Spaß auf der anderen.

 

Meine eigenen Kinder gehören zu der Minderheit, deren Eltern immer einen digitalen Wissensvorsprung vor ihnen hatten, wir reden auch aktuell immer noch mit Ihnen über alle möglichen Themen aus diesem Bereich, inzwischen auf Augenhöhe. Beide kennen sich im Umgang mit Handy, PC und Internet bestens aus – obwohl wir ihnen digitale Geräte und Möglichkeiten immer erst zur alleinverantwortlichen Nutzung überlassen haben, wenn sie uns dafür alt genug erschienen, mit 14 waren sie das definitiv noch nicht! In Deutschland darf man per Gesetz auch aus gutem Grund erst ab 16 Jahren heiraten, einen Führerschein machen, sich ohne Eltern bis Mitternacht bei öffentlichen Veranstaltungen aufhalten, bestimmte alkoholische Getränke konsumieren, etc.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Vernunftsfraktion hat insbesondere bei Pubertierenden

in der Regel einen ausgesprochen schweren Stand.

 

Pubertierende sind und waren schon immer besonders impulsiv, spontan, spaßorientiert, risikobereit und neugierig, erst allmählich gewinnt die Vernunft die Kontrolle über das Verhalten, und wie man z.B. auch an den Unfallstatistiken sieht, ist dieser Prozess auch mit Erreichen der Volljährigkeit noch längst nicht abgeschlossen – bei mir persönlich war das rückblickend eigentlich erst am Tag der Geburt meiner Tochter der Fall…

 

In Bezug auf ihre Freundeskreise und ihr schulisches Umfeld hat meinen Kindern diese zurückhaltende Handystrategie überhaupt nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass wir ihnen schon von klein auf vermittelt haben, dass sich Persönlichkeit, Selbstbewusstsein, echte Anerkennung und Respekt nicht über Statussymbole und schon gar nicht über “alle haben das” definieren, sondern dass es weitaus mehr darauf ankommt, was man “drauf hat”, als auf was man trägt bzw. mit sich herumträgt.

 

Ich erlebe aber, dass sehr viele Eltern von vornherein davon ausgehen, dass ihr Kind ausgegrenzt würde, wenn es bestimmte Dinge nicht hätte. Denkt man diese Idee zu Ende, erzieht man damit Kinder, deren Selbstwertgefühl entscheidend auf materiellen Dingen basiert – und das ist eine mehr als wackelige Grundlage für ein gesundes Selbstbewusstsein. Echte Freundschaften erwachsen nunmal nicht aus Markenklamotten oder elektronischen Geräten – und ein Selbstbewusstsein, das maßgeblich von Statussymbolen getragen wird, lässt sich gefährlich leicht erschüttern.

 

Ich erlebe stattdessen immer wieder, dass gerade diejenigen unter meinen Schülern, die selbstbewusst sagen “ich brauche diesen oder jenen Quatsch nicht”, die locker komplett ohne Hollister, Abercrombie, Facebook, WhatsApp und Co. auskommen, damit überhaupt keine Probleme in ihrem Umfeld haben, weil ihnen eben diese Einstellung großen Respekt einbringt. Meine Kinder gehörten immer zu den letzten, die ein Handy, eine mobile Konsole oder einen Internettarif auf dem Handy bekamen, Nachteile hatten sie dadurch nie, und an Freunden mangelte es ihnen weder im realen Leben noch heute auf Facebook oder in WhatsApp.

 

=> Kinder brauchen starke Eltern, auch in der Medienerziehung

 

Anerkennung und Selbstbewusstsein gewinnen Kinder v.a. durch echte Erfolgserlebnisse.  Freizeitaktivitäten wie Sport, Musik, Theater, etc. sind dafür hervorragend geeignet. Übertragen Sie ihnen frühzeitig Aufgaben, die sie selbständig bewältigen können und übertragen Sie ihnen Verantwortung. Lassen Sie sie alles, was sie selbst bewältigen können, auch selbst tun – auch wenn das natürlich nicht immer fehlerlos funktioniert. Gerade überbehütete Kinder, die jeden Tag zur Schule gefahren werden, deren Mama die Schultasche packt, täglich bei den Hausaufgaben dabei sitzt und jegliches vergessenes Arbeitsmaterial auf SMS-Abruf in die Schule nachbringt, haben es schwer, ein stabiles Selbstvertrauen zu entwickeln, weil sie täglich spüren, dass ihnen wenig zugetraut wird. Von dem Experiment, Ihrem Kind viel zu früh die permanente Verfügbarkeit der kompletten Erwachsenenwelt per Smartphone in der Hosen- oder Handtasche zuzutrauen, kann ich Ihnen dagegen nur eindringlich abraten – Ihren Kindern zuliebe.

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